In seinem jüngsten Projekt Soul, dessen Kinostarttermin über das Jahr hinweg mehrfach verschoben und schließlich gecancelt wurde und der nun am 25. Dezember direkt bei Disney+ erscheint, schlägt Docter eine ganz ähnliche Richtung ein. Das Ergebnis hebt sich jedoch merklich von den bisherigen Pixar-Werken ab: Waren diese in allererster Linie Kinderfilme, die auch für Erwachsene taugten, ist Soul ein Movie für Erwachsene im Gewand eines Kinderfilms.
Freilich, das bezieht sich weder auf Gewalt noch auf Intercourse, derartiges braucht man hier nicht zu fürchten. Allerdings sind die grundlegenden Themen, die im Mittelpunkt von Soul stehen, einerseits nochmals abstrakter als in Alles steht Kopf, andererseits sprechen sie allem voran den Erfahrungshorizont von Menschen an, die die Adoleszenz schon länger hinter sich haben. Wolle man zynisch sein, könnte man gar sagen: Soul ist ein Movie für Menschen in der midlife disaster.
Ganz und gar nicht zynisch muss man hingegen sein, um zu erkennen, dass der Protagonist dieses Movies in genau solch einer Krise steckt. Joe Gardner (im OT gesprochen von Jamie Foxx) ist Musiklehrer an einer New Yorker Schule, steht täglich vor unmotivierten Schüler*innen – und liebt Jazz über alles. Eigentlich, so sah sein Plan aus, seit ihn sein Vater einst in einen Jazzclub zerrte und dort seine Begeisterung für diese Musik entfachte, will Joe seine Brötchen nicht durchs Lehren, sondern durchs Spielen verdienen. Bisher hat es jedoch einfach nicht für den großen Wurf gereicht – diese eine, entscheidende Karrierechance, die den Durchbruch verspricht, blieb ihm bislang versagt.
Als sich ein ehemaliger Schüler bei ihm meldet, scheint es endlich so weit zu sein: Joe darf mit der Saxophon-Virtuosin Dorothea Williams (Angela Bassett) und ihrer Band eine Probesession spielen und wird ob seines Skills am Klavier vom Fleck weg engagiert. Im Freudentaumel stürmt der Musiklehrer durch die Straßenschluchten New Yorks, stürzt in einen offenen Gulli – und stirbt.
Was bis dahin bereits ein erzählerisch kompetentes, humorvolles und vor allem technisch überragendes Stück Animationskunst battle, entfaltet ab diesem Punkt die wohlbekannte Pixar-Magie. Joes Körper schlägt nicht auf dem Boden der Kanalisation auf, stattdessen ist es seine Seele – ein kleines, rundes, blau-weißes Männchen -, die in einer schwarzen Unendlichkeit erwacht, dem Vorraum zum Jenseits – dem nice past. In dem nun nicht mehr ganz so Lebendigen erwacht angesichts der Probability, die er soeben noch erhalten hat, der unbedingte Drang, zu seiner körperlichen Existenz zurückzukehren: Er flieht und landet im nice earlier than: jener grünen Wiese, auf der Seelen geformt und mit einer Persönlichkeit ausgestattet werden, bevor sie zur Erde dürfen.
Um nicht aufzufliegen, nimmt Joe am sogenannten Mentorenprogramm teil: Ihm wird eine junge Seele zugewiesen und Joe soll ihr helfen, ihren spark, ihren inneren Funken, ihre Ardour, ihre Lust aufs Leben zu wecken. Nur so wird der Erden-Move einer jeden Seele vollendet, und sie kann ihre körperliche Existenz antreten. Kunst, Sport oder Wissenschaften sind nur drei der möglichen Optionen. 22 (Tina Fey), so der vorläufige Title der Seele, die Joe ans Bein gebunden bekommt, hat allerdings schlicht kein Interesse daran, am Leben teilzunehmen.
Docter sowie seine Mitautoren Mike Jones (EvenHand) und Kemp Powers (One Night time in Miami) etablieren hier eine nur allzu klassische Hauptfiguren-Konstellation bestehend aus zwei konträren Charakteren – der Tote, aber Lebenswillige und die noch Ungeborene, aber Lebensunwillige -, anhand derer sie die Konstitution des menschlichen Geistes auszuleuchten versuchen. Welche Charaktereigenschaften machen uns aus? Inwieweit sind diese angeboren, von unserem gesellschaftlichen Umfeld geprägt und/oder wandelbar? Und vor allem: Wie damit umgehen, wenn sich unsere Lebensziele nicht auf jene Weise erfüllen, die wir uns stets erträumt hatten? Wie schon in Alles steht Kopf wird eine anfängliche, scheinbare Gewissheit (in Medical doctors letzter Regiearbeit die Gleichung „Freude ist intestine, Trauer ist schlecht“, hier der Glaube an einen determinierten Lebensweg, der nur eine Richtung kennt und lediglich in Erfolg oder Fehlschlag mündet) auf ebenso charmante wie clevere und letztlich auch berührende Artwork und Weise dekonstruiert.
Dabei spielt Soul die bekannten Pixar-Stärken souverän aus: Das technische Niveau ist durchweg hoch, setzt in den realweltlichen Szenen gar neue Maßstäbe in Sachen Detailreichtum, Lichtgestaltung und Objektstrukturen. Der Humor sorgt insbesondere auf physischer und visueller Ebene für zahlreiche höchst erheiternde Momente, allem voran in der deutlich lockereren ersten Hälfte (inklusive einiger großartiger Referenzen auf prominente Persönlichkeiten wie Mutter Theresa oder Sigmund Freund); bevor Soul mit fortschreitender Figuren- und Plotentwicklung zunehmend ehrlich berührende emotionale Schlüsselmomente entfaltet, etwa Joes Konfrontation und Aussprache mit seiner Mutter (Phylicia Rashad), die ihn seit jeher von einer Musikerkarriere abbringen will.
Und nicht zuletzt: die überbordende Kreativität sowohl beim Design als auch und ganz besonders bei der Visualisierung metaphysischer Konzepte. Schon Alles steht Kopf brillierte in dieser Hinsicht, und auch wenn Soul diesbezüglich zumindest rein quantitativ weniger zu bieten hat, so ist es doch überragend, mit welcher scheinbaren Selbstverständlichkeit hier abstrakte Vorstellungen von Jenseits und Diesseits, Psyche und Persönlichkeit, Ardour, Obsession und Melancholy in völlig logische, nachvollziehbare Formen gegossen werden.
Am Ende bleibt einzig die Frage, was oder vielmehr: wie viel Soul den verschiedenen Altersgruppen in seinem Publikum mitgeben kann. Sicher, die Jüngsten können sich (ebenso wie die Älteren) am bunten Design sowie am hervorragenden Slapstick erfreuen. Und zudem vorsichtig darauf vorbereitet werden, dass ihr Leben vielleicht nicht ganz so verlaufen wird, wie sie sich das erträumen – inklusive der Erkenntnis, dass das überhaupt nicht schlimm ist. Den größten Mehrwert bietet dieser überaus lebensbejahende Movie jedoch jener Publikumsschicht, die diese Erfahrung womöglich schon gemacht hat. Deren Alltag zwischen Arbeit, Routinen und Ritualen festzustecken scheint. Die ihren „inneren Jazz“ verloren hat. Denn tatsächlich haben diese Musikrichtung und das Leben etwas Grundlegendes gemeinsam: Man muss improvisieren – bis man irgendwann im Move ist.